Mit ihrer ganz eigenen Atmosphäre üben Kirchenräume (hier St. Sebald in Nürnberg) eine große Anziehungskraft auf Menschen aus. Kirchenpädagogik leitet dazu an, den Raum zu "lesen" und zu verstehen.
Bild: Otto Schemmel Otto Schemmel - Own work, CC BY 3.0
Kirchenraumpädagogik
Den Kirchenraum entdecken
Kirchengebäude prägen das Weichbild von Städten und Dörfern. Bewohnern und Fremden sind sie Bezugs- und Orientierungspunkt zugleich. Nicht nur die weithin sichtbaren Kirchtürme, auch die Kirchenräume erfahren zunehmende Aufmerksamkeit. Mit ihrer Atmosphäre und ihrer Ausstrahlung haben sie eine besondere Anziehungskraft. Dass viele evangelische Kirchen durchgängig geöffnet sind – in Bayern über 600 – und sich darin auch als öffentliche Räume verstehen, kommt grundlegenden Bedürfnissen von Menschen heute sehr entgegen. Laut einer Studie des Gottesdienst-Instituts der ELKB (2007) zu „Ritualen, Sinngebung und Lebensgestaltung in der modernen Welt“ sind es vor allem vier Dinge, die Menschen in geöffneten Kirchenräumen suchen und schätzen.
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Kirchenräume antworten demnach auf elementare Grundbedürfnisse von Menschen: auf die Sehnsucht nach Ruhe und Beruhigung in einem komplexen, unruhigen Leben und auf das wachsende Bedürfnis, Ausdrucksformen und Rituale des Glaubens zu verstehen und zu praktizieren. Die junge Disziplin der Kirchenpädagogik trägt dem in besondere Weise Rechnung. Über die Jahre hat sie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene vielfältige Erschließungswege entwickelt, die anleiten, den „fremden Raum Kirche“ zu „lesen“ und zu verstehen. Dies geschieht vor allem dadurch, die Wahrnehmung radikal zu verlangsamen, durch exemplarisches Arbeiten an einem Detail die Fülle von Eindrücken zu reduzieren und Erfahrungen im Kirchenraum zu ermöglichen, die möglichst viele Sinne ansprechen. Über die Formate üblicher Kirchenführungen hinaus soll so eine persönliche Begegnung mit dem Kirchenraum ermöglicht werden, die hilft, die Glaubenssprache des jeweiligen Kirchenraumes zu hören, wahrzunehmen und zu verstehen.
Die eigene oder eine fremde Kirche sehen zu lernen beginnt nicht erst im Inneren des Raumes. Bereits die „Außenhaut“ der Kirche erzählt viel über ihre Geschichte. So beginnt die Annäherung von außen mit einer Umrundung der Kirche, die Seite für Seite genau in den Blick genommen wird. Was sehen wir? Die Formensprachen des Baustils und dessen Weiterentwicklung, das verwendete Material, aber auch der Rhythmus und die Gestaltung von Fenstern, Eingängen, Türmen etc. geben Informationen zu Entstehungszeit und Entwicklung des Gebäudes, zur Intention der Auftraggeber, zu Theologie und Gottesbild. Entdeckungen wie Brandspuren, Baumeisterzeichen, Risse und Einkerbungen sorgen nicht selten für Überraschung. An jeder Seite drehen wir uns auch noch einmal um und fragen: Was sieht die Kirche? So verdeutlichen wir uns das jeweilige Umfeld des Kirchenraumes und dessen mögliche Auswirkungen auf seine Gestaltung (z.B prächtige Portale zur Stadtseite) sowie die Bedeutung des Kirchenraums in dieser Öffentlichkeit.
Die Schwelle vom Außen- in den Innenraum zu übertreten verdient Aufmerksamkeit um den „Wechsel der Welten“ wahrzunehmen. Dass es sich hier um den beachtenswerten Übergang vom Profanum (vor der Kirche) zum Fanum (dem „Heiligen“ im Kircheninneren mit dem Altar als Zentrum) handelt, betonen viele Kirchen durch einen besonders inszenierten Eingangsbereich. Ein Treppenzugang, der die Eintretenden bereits auf ein andere Ebene führt, ein großes, reich gestaltetes Portal bereiten auf den besonderen Weg „ins Heilige“ vor und wollen die Größe und Herrlichkeit des Hausherrn- nicht selten auch des Bauherrn- ahnen lassen. Was bedeutet es aber auch, z.B. durch die Garderobe eines Gemeindezentrums in den angebauten Kirchenraum zu treten? Worauf verweisen Glastüren?
Treten wir ein, wird der Unterschied zu draußen mit allen Sinnen spürbar: Licht und Luft verändern sich. Geräusche treten zurück. Die Bewegung hält inne. Das Auge sucht – vielleicht im Halbdunkel der Orgelempore im Eingangsbereich - Orientierung. Vor ihm tut sich ein einziger größerer Raum auf: das Kirchenschiff. Was ist zu sehen? Wohin fällt unser Blick? Wird er hinaufgezogen in himmelhohes Gewölbe? Bleibt er an überbordenden Goldverzierungen, Gemälden und Stuckengeln hängen? Wird er vom gegenüberliegenden Altar angezogen, der im erhöhten Chorraum am Ende des Kirchenschiffes im Licht der Chorraumfenster hervortritt? Das Durchschreiten des Kirchenraumes zu diesem Ziel führt uns gleichsam einen Weg vom Dunkel ins Licht. Wir können dabei sinnlich erfahren, was die klassischerweise geosteten Kirchenräume mitteilen: Dieser Weg durch den Kirchenraum zum Altar bildet den Weg durch die Gottesdienstliturgie ab, der im Abendmahl mündet am Tisch des Herrn. Er ist gleichzeitig aber auch Abbild des Lebensweges, wie Christen und Christinnen ihn verstehen dürfen: letztendlich als einen Gang ins Licht.
Variieren Kirchenräume, ihre Gestaltungen und Atmosphären auch stark, ihre Grundausstattung ist elementar. Jeder evangelische Kirchenraum hat einen Altar, einen Taufstein, eine Kanzel und meist eine Orgel. Die sog. Prinzipalien – die vornehmste Einrichtung eines Kirchenraumes- sind die Orte, die die grundlegenden Vollzüge des Gottesdienstes nach lutherischem Verständnis ermöglichen: auf das Wort Gottes zu hören und die Sakramente in Abendmahl und Taufe zu feiern. Gerade deshalb geht m.M. nach ihre Bedeutung weit über ihre zeitgebundene Gestaltung hinaus. Wofür stehen sie? Woran könnten sie Menschen erinnern, wenn ihr Blick auf sie fällt?
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Vielleicht lädt der Altar ein nicht zu vergessen, dass wir satt werden sollen in unserem Leben, leiblich und seelisch: „Kommt her zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“, sagt Jesus. Das Kreuz, die brennenden Kerzen, die Bibel auf dem Altar verweisen symbolisch auf seine Gegenwart. Christus, das Licht und das Wort Gottes in der Welt. In Brot und Wein kommt er uns nahe. Kommt herzu, denn es ist alles bereit! Schmecket und sehet, wie freundlich Gott ist!
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Jeder Taufstein erinnert uns an den Beginn des Weges mit Gott. Das gegebene Versprechen heißt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! Fürchte dich nicht!“ Mein Name ist eingeschrieben in das Buch Gottes. Aus seiner Hand kann niemand fallen. Der Taufspruch als Wort des Segens ist mitgegeben wie ein Geländer auf dem Lebensweg.
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Die Kanzel, wo das Evangelium gepredigt wird, ist der Ort, wo ich das Wort zugesprochen bekomme, das ich mir selbst nicht sagen kann. Zuspruch, Entlastung, Mahnung und Trost. Aufgerichtet und frei sollen wir leben. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
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Die Prinzipalien als Orte des Segens, des Trostes und der Kraft erinnern in jedem Kirchenraum an Gottes Freundlichkeit und in jedem Gottesdienst kann die Freundlichkeit Gottes dort erfahren werden.
Die Kunst des Sehens im sakralen Raum ist auch die Kunst hinter die Dinge zu sehen und in ihre Bedeutungstiefe und geistliche Aussage vorzudringen. Hüten und öffnen wir unsere Kirchenräume! Sie sind Schätze für die Zukunft der Kirche, für eine generationenübergreifende spirituelle Bildung.
Andrea Felsenstein-Roßberg
Andrea Felsenstein-Roßberg ist Referentin für Spiritualität, Kirchenraum und Fortbildung am Gottesdienst-Institut in Nürnberg. Zudem ist sie Bibliologtrainerin und Geistliche Begleiterin.
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13.08.2021
Andrea Felsenstein-Roßberg